Migrationserfahrungen und Überlegungen in linken Kreisen in Berlin

Seit mehr als 5 Jahren bin ich in linken Kreisen in Berlin und davor war ich in der anarchistischen Bewegung in dem X-Land aktiv. In diesem etwas chaotischen Text werde ich meine eigenen Veränderungen und meine Gefühle-Gedanken über linke Kreise teilen.

Warum bin ich hier?
Vor Jahren stand ich vor einer anarchistischen Bibliothek in Berlin, ich weiß nicht mehr, warum ich dort war. Aber mit jemandem, den ich aus den Kreisen kannte (ein weißer Deutscher), kam zur Sprache, dass ich nicht mehr in dem X-Land lebe, sondern mich in Berlin niedergelassen habe. Er wurde etwas unruhig, als ich das sagte, und obwohl ich mich nicht mehr an die genauen Worte erinnere, die er benutzte, deutete er an, dass es notwendig sei, dass Menschen in anderen Ländern kämpfen, und dass es in diesem Sinne falsch sei, nach Berlin zu kommen.

Jahre später, wenn ich an Kommentare wie diesen und an die Fragen, warum ich hier bin, zurückdenke – einige davon mögen gut gemeint sein -, scheint es mir, dass Menschen ihre Anwesenheit nicht ständig irgendwo rechtfertigen müssen. Menschen können vor etwas Physischem oder Emotionalem weglaufen oder auch nicht. Vielleicht möchte ich, wie andere (linke-) westeuropäische weiße Mittelschichtler*innen, in jedes Land gehen, in das ich möchte, um zu reisen, zu einfach leben, zu arbeiten (freiwillig oder gegen Geld), zu studieren, eine Ausbildung zu machen oder eine Sprache zu lernen, oder sogar alltägliche Dinge zu tun, die ich nicht in meinen Lebenslauf schreiben kann, oder ist das nicht so? Ich denke, dass alle diese „Privilegien“ haben sollten.

Deutschland als das geringere Übel?
Indem ich erkläre, wie „schlecht“ der Staat ist, aus dem ich komme (oder indem ich die oben erwähnte Flucht auf diese Weise legitimiere), habe ich das Gefühl, dass ich linken (weißen-, deutschen-) Menschen ständig Material gebe, dass Deutschland das kleinere Übel ist. Ich kann die 2 Tendenzen der Menschen, denen ich Material gebe, die manchmal miteinander verwoben sind, wie folgt kategorisieren:

1- Die Person hat kein Problem mit dem Staat, der Gesellschaft oder dem System, in dem sie in Diskursen, Handlungen und Emotionen lebt. Aber ihrer Meinung nach gibt es Probleme in „anderen“ Ländern und es ist verständlich und respektiert, dass sie gegen diese Probleme kämpfen und in (west-)europäische Länder fliehen. Aber sie hat Schwierigkeiten, radikale Kritik und Aktionen gegen den deutschen Staat und die deutsche Gesellschaft zu verstehen.

2- Die Person kritisiert den Staat, die Gesellschaft oder das System, in dem sie lebt, in Reden und Taten, aber es gibt keine Wut oder einen Bruch in ihren Gefühlen. Denn alles in ihrem Leben ist in Ordnung und läuft mehr oder weniger so, wie sie es will, sie hat erreicht, was sie tun will, sie hat gesehen, was sie sehen will, es gibt keine großen Unterschiede zwischen Ideal und Wirklichkeit. Es gibt Stabilität, Sicherheit und vielfältige Zukunftsperspektiven in ihrem Leben. Obwohl sie in der Rede radikale Kritik und Maßnahmen gegen den deutschen Staat und die deutsche Gesellschaft gutheißen (und redet übrigens oft mehr über ihre „Prekarität“ als die prekärsten Menschen selbst, dass sie den Staat-die Nation-die Gesellschaft am meisten hasst), liegt ihnen der Fortbestand von Ordnung und Status quo am Herzen -wie ich mich fühle, natürlich-.
Und ich sage diese Dinge nicht als Kritik, sondern als seltsame Realität in Berlin (auch an anderen Orten auf der Welt?). Denn jedes Jahr werde ich zum 2. und ich wünsche mir zumindest, nicht zum 1. zu werden.

Ein anarchistischer Linker
Obwohl ich mich immer noch als Anarchist bezeichne, habe ich in Berlin auch eine neue Identität erworben, nämlich die „Links“. Eigentlich war ich vielleicht schon immer ein Linker, ich sah für jemanden, der nicht aus einem linken Milieu kommt, wie ein „Linker“ aus, aber ich sah mich nur als „Anarchist“, um mich (uns) von autoritären linken, parteigebundenen, kommunistischen Leuten und Gruppen abzugrenzen. In Berlin fügte ich jedoch die „linke“ Identität hinzu, sowohl weil ich nicht zu einem anarchistischen Milieu gehörte als auch weil – meiner Meinung nach – diese Unterscheidungen in Berlin nicht so wichtig zu sein schienen. Die positive Seite war, dass ich mich nun als Teil einer größeren Bewegung sah, die negative Seite war, dass ich mehr „domestizierte“ Gefühle und Handlungen hatte. Ich habe mein Leben in den Rahmen gesetzlicher und (linker-) gesellschaftlicher Annahmen eingepasst. Die Entwicklungen in meinem persönlichen Leben (in erster Linie die Arbeit und die Uni) wurden zum Zentrum und andere „linke“ Aufgaben wurden zu Nebenbeschäftigungen. Natürlich gibt es auch andere Gründe, wie meine eigenen Überlebensgefühle, mein Alter und die aktuelle lokale und globale Politik.

“Integration” in die Kreise
Ich wurde auch Teil des Konzepts von Solipartys, Konzerten usw. -und die damit verbundene Müdigkeit-, von dem ich ziemlich überrascht war, als ich zum ersten Mal nach Berlin kam. Vorher stellte ich den Leuten um mich herum die Frage: „Sind diese Partys für die Solidarität oder ist Solidarität ein Vorwand für eine Party?” Jahre später würde ich diese Frage folgendermaßen beantworten: „Die Leute gehen sowieso auf Partys, das gehört zu ihrem täglichen Leben. Lass die Leute wenigstens zusammenkommen, lernen, wie man Dinge organisiert, sich an diesen Orten wohl und sicher fühlen und das Geld an die richtige Stelle fließen“. Nicht nur im Zusammenhang mit der Party, sondern generell fing ich an, nach dem zu suchen, was möglich ist, was machbar ist, und nicht nach dem, was das korrekteste ist (nach wessen Meinung?). Ich versuche, die Schuldzuweisungen aus der Ferne und aus einer völlig anderen Erfahrung, Geografie und Körperlichkeit zu minimieren, und die Schuldzuweisungen, die auf mich gerichtet sind.

Papierblindheit
Ich fing an, das Vorhandensein von Dokumenten- oder Papierblindheit intensiv zu spüren. Die meisten Menschen (auf der Welt?) müssen keine Papiere für ein Visum oder eine Aufenthaltstitel sammeln. Übrigens war ich auch in dem X-Land die meiste Zeit meines Lebens papierblind, die X-Landische Staatsbürgerschaft wurde mir von Geburt an gegeben, ich musste nichts dafür tun. D.h. ich war mir der sozialen und wirtschaftlichen Diskriminierung bewusst und dagegen, aber ich war blind für die Auswirkungen der bürokratischen/gesetzlichen Diskriminierung. Aber jetzt, wo ich die Welt durch Gesetze und Papiere betrachte, denke ich, dass meine radikale und emotionale Welt schrumpft und meine materielle Welt und die materiellen Möglichkeiten sich erweitern.

Die Auswirkungen der Palästina-Frage in linken Kreisen
Ich sehe, dass die Palästina-Frage viele Leute mobilisiert hat, neue Kreise, neue Leute auf eine – für mich – intersektionelle Art und Weise. Natürlich gab es diesen Trend schon vorher, aber die Palästina-Frage war ein Auslöser, sie hat die Sichtbarkeit dieser Gruppen erhöht. Einige Gruppen mit Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund (Staatsbürgerschaft, Gender, Hautfarbe usw.) begannen, klare queere, antikoloniale, pro-grenzenlose, anti-ableistische, ökologische, antikapitalistische, antirassistische und pro-palästinensische Positionen zu vertreten.

So kann ich die Veränderungen (an mir selbst) und meine Beobachtungen der letzten Jahre zusammenfassen.

Solidarische Grüße
C.

passiert am 11.02.2025